"Der Bindestrich ist und bleibt Provokation und Mahnung"

Nachricht 09. September 2018

Grußwort von Dr. Birgit Klostermeier zur 50. Internationalen Jüdisch-Christlichen Bibelwoche in Kloster Oesede

"50 Jahre Jüdisch-Christliche Bibelwoche ist ein besonders Ereignis. Ich freue mich und es ist mir eine Ehre, Sie heute für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und besonders für den Sprengel Osnabrück zu grüßen.
Was alles, so habe ich bei einem Blick auf die Einladung zu dieser Tagung gedacht, was alles verbirgt sich hinter diesen drei Adjektiven? International, Jüdisch und Christlich. Jüdisch und Christlich mit einem Bindestrich. Wofür steht der Bindestrich? Für Distanz und Nähe. Für den Wunsch nach Zusammenhalt und für die Gefahr auseinanderzudriften oder auseinandergerissen zu werden. Zwei, die verschieden sind und doch zusammengehören.

Als ich Israel Yuval, Professor für jüdische Geschichte in Jerusalem, vor einigen Jahren las, war ich fast beglückt von der Vorstellung, die zwei Religionen in ihrem historischen Gewordensein nicht als erste und zweite, als alte oder neue Religion, sondern als zwei Geschwister zu begreifen. Gewiss, rivalisierende Geschwister, verschieden, fremdartig und doch durch eine gemeinsame Herkunft verbunden.

Der Bindestrich ist und bleibt Provokation und Mahnung.
Wir leben in Zeiten, in denen, bis vor kurzem unvorstellbar, Antisemitismus in Europa zunehmend sichtbar und öffentlich wird, jüdische Menschen Deutschland verlassen, weil sie sich fürchten, und es einer Mutprobe gleichkommt, eine Kippa zu tragen.
Wir leben in Zeiten, in denen zugleich in antiislamischer Tendenz ein jüdisch-christliches Abendland heraufbeschworen wird, was es so jedoch nie gegeben hat. Vergessen oder weggewischt wird dabei die Geschichte christlicher Vormacht und christlich begründeter Judenfeindlichkeit mit ihren verheerenden Folgen bis heute. Der Bindestrich ist und bleibt Provokation und Mahnung. Er markiert die Fremdheit, die notwendig geachtet und gewahrt werden muss – und dies, das ist die Mahnung, in Respekt, in Zuneigung und Offenheit oder in Geschwisterlichkeit.

Jüdisch-Christlich die Bibel zu lesen, das ist nicht nur eine religiös motivierte, sondern auch eine kulturell und politisch bedeutsame Praxis, denn sie hält, auch wenn es schmerzhaft ist, die Wunde der Fremdheit und Verschiedenheit offen und öffnet damit einen großen Raum des „Zwischen“, einen Raum der Freiheit, ohne den demokratische Gesellschaften nicht sein können.
Was bedeutet die Interpretation der Schrift für die Anderen? Wie gehen wir mit aktuellen Deutungen der Texte um, die  die Abgrenzungsgeschichte wieder offen legen?  - Ihre Praxis, in der Bibelwoche sich diesen Fragen auszusetzen, ist ein Lernort und deshalb Vorbild auch für Andere, mit Brüchen und offenen Fragen zu leben, skeptisch zu bleiben gegenüber Mythen des einfachen und schnellen Verstehens. Es ist ein Ort, der beunruhigt, wie hartnäckig Vorstellungen Verhinderungen sind und bleiben.

Und genau darin, in dem Aushalten dessen, was beunruhigend und kritisch ist, ist es ein  Ort des Widerstandes. So wie Dorothee Sölle es für die Mystik beschrieben hat. Von der gemeinsamen Herkunft her - als dem Glauben -  zusammenzukommen als die Verschiedenen, das macht sensibel und aufmerksam für die Phänomene der Zertrennung, des Leidens, der inneren und äußeren Zerrissenheit. Die Mystik stellt uns in einen Gegensatz zur Welt, sie ruft nach einem Widerstand gegen die Welt, so wie sie ist.
Deshalb ist dieser Bindestrich in seinem Kontext, nämlich nationale Grenzen überwindend, nicht nur Provokation und Mahnung, sondern ein Zeichen der Hoffnung.  

Ich danke Ihnen, dass es Sie und die Internationale Jüdisch-Christliche Woche gibt und wünsche Ihnen in allem Tun und Denken den Segen des Lebendigen."