"Es ist nötig Formen und Sprache für die Welt von heute und morgen zu finden"

Nachricht 01. November 2021

Predigt von Regionalbischof Selter zum 31.10. in St. Marien

Ihren „Traum von Kirche“ hatten zu Beginn des Gottesdienstes am Reformationstag die Besucherinnen und Besucher auf Zetteln notiert. "Ich bin gespannt darauf, wie Ihr Traum aussieht und wie weit das Spektrum dessen reicht, wie Sie sich Kirche vorstellen", griff Regionalbischof Selter diese Aktion der beiden Innenstadtgemeinden St. Marien und St. Katharinen auf.

"Kirche reformieren, das war auch damals das Anliegen Martin Luthers. Aber die Ausgangsbasis und die Rahmenbedingungen waren damals ganz anders, als sie es heute sind. Damals war die Kirche eine beherrschende Größe. So gut wie jeder gehörte ihr an. Aber mit Freiheit hatte die Kirche nichts zu tun. Vielmehr machte sie sich die Ängste der mittelalterlichen Menschen zunutze, hielt sie wach oder schürte sie erst noch, um daraus selbst Macht und Profit zu ziehen. „Extra ecclesiam nulla salus“, kein Heil ohne die Kirche, lautete das Credo und kam die Menschen teuer zu stehen, die sich den Ablass von ihrer Sünde kaufen mussten.

Für Martin Luther war der Brief an die Galater, aus dem der heutige Predigttext genommen ist, unter den Paulusbriefen der wichtigste. Er sagte sogar einmal, er sei ihm vertraut wie seine Käthe von Bora. Und es würde mich nicht überraschen, wenn die folgenden Verse seine Lieblingsstelle waren (Galater 5, 1.5.6) :
1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Steht also fest und lasst euch nicht wieder in das Joch der Knechtschaft einspannen. 5 Denn im Geist und aus Glauben warten wir auf die Erfüllung unserer Hoffnung: die Gerechtigkeit. 6 In Christus Jesus gilt ja weder Beschnittensein noch Unbeschnittensein, sondern allein der Glaube, der sich durch die Liebe als wirksam erweist.

Die Liebe und Barmherzigkeit Gottes kann und muss man sich nicht erkaufen. Weder durch Geld noch durch Wohlverhalten. Glaube heißt, diese bedingungslose Barmherzigkeit Gottes anzunehmen und auf seine Liebe zu vertrauen. Das Evangelium lautet: Jesus Christus hat das, was in unserem Leben an Verstörendem vorgefallen sein mag und dessen wir uns schämen, am Kreuz ein für immer überwunden.
Und dieser Glaube allein verbindet die einzelne Christin, den einzelnen Christen mit Gott. Wir sind frei von jeder Form der Heilsvermittlung durch die Kirche. Das war der Kern der Reformation Martin Luthers.

Die Funktion der Kirche bestand aber weiterhin darin, dass sie die Versammlung der Gläubigen ist, bei denen das Evangelium gepredigt und die Sakramente, also Taufe und Abendmahl, der Heiligen Schrift entsprechend gereicht werden. Gleichwohl darf sich die Gestalt, in der Kirche lebendig ist, ruhig wandeln und vielfältig sein.

Heute geht es uns darum, diese Vielfalt wahrzunehmen und neu zu ermöglichen. Anders als zu Luthers Zeiten und noch vor sechzig Jahren gehört nur noch die Hälfte der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an. Die Tendenz ist weiter rückläufig. Gleichwohl haben wir fortgesetzt die Aufgabe, den Menschen das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen in Wort und Tat. Darum ist es nötig, dafür Formen und Sprache zu finden, die in die Welt von heute und morgen passen und Menschen besser erreichen, als dies gegenwärtig zu gelingen scheint. So deuten sich - auch beschleunigt durch die Pandemie - inzwischen auch digitale Formen von Gemeinde an, in denen genau das geschieht, worin sich Kirche konstituiert: Verkündigung des Evangeliums und sogar Feier des Abendmahls.

Die Gestalt unserer Kirche wird sich verändern, ihre Ressourcen werden zurückgehen und die Zahl ihrer Mitglieder weiter sinken. Für die Reformatoren zur Zeit Martin Luther war es wichtig, dass nicht wir es sind, auf die diese Kirche gegründet ist, sondern dass es Jesus Christus ist, der seine Gemeinde versammelt und sie auch schützt und erhält. Worauf es also fortgesetzt ankommt, ist der Glaube, der sich durch die Liebe als wirksam erweist. Wo dieser Glaube gelebt wird und Menschen einander in diesem Glauben großzügig und liebevoll begegnen, wo sie anderen Gutes tun und die Schöpfung bewahren, da wird Kirche auch weiterhin ein Ort bleiben, wo Gottes Güte erfahrbar ist, ein Ort, der anstiftet zum Leben.

Amen.

 

Hintergrund: Die Innenstadtgemeinden St. Katharinen und St. Marien feiern am Reformationstag traditionell einen gemeinsamen Festgottesdienst. Stadtdechant Dr. Martin Schomaker von der katholischen Kirche überbrachte in einem Grußwort herzliche „Glückwünsche zum Reformationstag“. Beteiligte an der festlichen Feier waren neben dem Regionalbischof Superintendent Dr. Joachim Jeska, Pastoren der beiden Gemeinden, Otto Weymann (St. Katharinen) und Torsten Both (St. Marien) sowie die Vosritzenden der beiden jeweiligen Kirchenvorstände, Friederike Dauer (Vors. d. KV St. Marien) und Stephan Wilinski (St. Katharinen).

Musikalische Gestaltung: KMD Carsten Zündorf und Chorleiterin Michiko Sugizaki mit dem Posaunenchören beider Gemeinden.

Im Anschluss an den Gottesdienst wurde die Ausstellung „Einblicke in das religiöse Leben der Russlanddeutschen“ eröffnet.

Informationen zur Ausstellung

Regionalbischof zum Zukunftsprozess der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers

"Unsere Kirchen machen sich derzeit alle auf den Weg einer Erneuerung. Für die Hannoversche Landeskirche hat die Landessynode, das höchste Entscheidungsorgan, beschlossen, in einen Zukunftsprozess einzutreten. Die Gestaltung und Ausrichtung dieses Prozesses liegt derzeit in den Händen eines Ausschusses, in dem Vertreter:innen aller kirchenleitenden Organe mitarbeiten. Vom Bischofsrat bin ich delegiert. Seit März haben wir in neun Sitzungen und etlichen Gruppenarbeiten einen Prozess entwickelt, der im November der Synode zum Beschluss vorgelegt wird. Partizipativ, transparent und innovativ soll dieser Prozess werden. Gemeinsam wollen wir mehr sehen. Und vielleicht kann manches von dem, was Sie eben aufgeschrieben haben, in diesen Prozess schon einfließen".