Dr. Kristin Jahn beim Sprengelempfang in St. Marien

Nachricht 06. November 2024

Was ist "die Sache der Kirche"?

"Wir wollen die Tradition des Sprengelempfangs wieder aufleben lassen", so begrüßte Regionalbischof Friedrich Selter am Vorabend des Reformationstages die Gäste in der vollen Marienkirche.
Das Thema „Deutschland im Dauerstress – Driftet unsere Gesellschaft auseinander“ war als Fragestellung formuliert und wurde von der Referentin des Abends, Dr. Kristin Jahn, Generalsekretärin des DEKT 2025, von verschiedenen Seiten analysiert, verneint und mit einer klaren Aufforderung beantwortet.

Keine Angst vor Veränderungen
„Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. Aber ich habe auch kein Bild von einer Gesellschaft, in der wir immer alle einer Meinung sein müssen. Was ich wahrnehme, ist, dass die Bereitschaft, die eigene Bubble und Komfortzone zu verlassen, einander zuzuhören, sich gegenseitig wahrzunehmen – abnimmt. Das ist fatal“, sagte Kristin Jahn.
In ihrem Vortrag entfaltete sie ihre Perspektive auf Kirche und ihre Aufgabe in der Gesellschaft.
Das Gefährliche in dieser Zeit seien die vermeintlich einfachen Lösungen für hochkomplexe Probleme. Die Ungeduld und Wut, angeheizt von geistigen Brandstiftern, die mit den Gefühlen der Menschen spielten und auf Spaltung, Skandalisierung und Empörung statt auf Diskurs setzten.
„Ich bin in der DDR geboren. Mir machen Veränderungen wenig Angst. Ich habe erlebt, wie Menschen aneinander schuldig wurden und ich weiß, dass es ein gemeinsames Leben trotz dieser Schuld gibt.  Es gibt keine perfekte Gesellschaft. Aber es gibt den Willen, es miteinander zu wagen und ich finde, das ist unfassbar viel.“

„Die Sache der Kirche ist es nicht, Politik zu machen..."

Nachdenkliche Worte fand die Generalsekretärin des DEKT zu einer Kirche als Echokammer der Politik, einer Kirche, die wie eine NGO agiere.
„Die Sache der Kirche ist es nicht, Politik zu machen oder die Sprache der Politiker zu benutzen. Oder gar deren Agenda zu bearbeiten. Die Sache der Kirche ist was anderes: Herberge der Mündigkeit zu sein. Menschen zu trösten in ihrem Scheitern und sie zu ermutigen noch einmal anzufangen. Wissen zugänglich zu machen, damit sich Menschen eine eigene Meinung bilden und sich frei entscheiden können, den einen oder anderen Weg zu gehen.  
Sache der Kirche ist es, den einzelnen mit seiner Freiheit und Verantwortung ernst zu nehmen, ihn damit zu konfrontieren, ohne zu moralisieren.  
Sie muss Menschen befähigen, sich selbst zu erkennen und sich zu positionieren – aber das kann sie nicht, indem sie Positionen vorgibt.
Kirche ist der Raum, wo ein Mensch alles auf Gottes Tisch legen kann und sich ausrichtet an diesem Jesus Christus und sich gerichtet weiß allein durch Gott. Sie ist immer Kirche ohne Führeranspruch. Sie ist Ort der Selbstreflexion und Positionierung, in der er sich immer von Gott gehalten weiß. Damit kommt man nicht in die Tagesschau. Aber es ist eine Haltung miteinander zu leben, Glaube – also Zuversicht und Fragen - zu wagen, das Kirche sein zu riskieren. Abseits der Echokammer und Kommentierung von Politik diesen dritten Ort in der Gesellschaft zu bespielen."

Die Stunde der Religion - Kirche als "dritter Ort"

„Es ist jetzt die große Stunde der Religion angebrochen. Auch wenn die Mitgliedszahlen etwas anderes zu sagen meinen. Aber nichts braucht es jetzt gerade so sehr wie diesen dritten Ort. Kirche als Räume der Begegnung mit dem Unendlichen. Orte, an denen uns noch etwas anderes beherrscht als die eigene Meinung und Sorge. Orte, an denen wir mit unserer Möglichkeit konfrontiert werden. Die Theologie nennt so etwas Verheißung. Ich glaube, dass es auf alles, was wir sehen und verstehen, noch diese dritte Sicht gibt, das Höhere. Darüber verfüge ich nicht. Aber genau das ist es, was mich täglich ermutigt, mich dem andersdenkenden und politischen Gegner immer wieder zuzuwenden. Ich glaube, dass Gott das letzte Wort hat und gerade weil das so ist, werde ich das vorletzte Wort immer wieder wagen: mich selbst nicht absolut setzen. Den anderen nicht nötigen, sich mir unterzuordnen. Ihn anerkennen als mein Gegenüber. Im Glauben an Gott als den, der das letzte Wort hat, steckt für mich auch mein unbedingter Wille zum Dialog. Ich finde, es ist ein riesengroßes Glück, dass wir das tun dürfen. Jeden Tag."

Grundgesetz und Evangelium - Das Feindbild ist abgeschafft.

"Kirche gibt es nur im Dialog. Das Evangelium, auf dem der Kirchentag fußt, und das Grundgesetz haben eine fundamentale Einsicht gemeinsam: Das Feindbild ist abgeschafft. Beides eint dieselbe Erkenntnis: Es gibt kein „Wir gegen Die“ – es geht nur gemeinsam. Kirche und Gesellschaft gibt es nur im Dialog. Im unbedingten Willen, es miteinander trotz aller stehendbleibenden Unterschiede und Differenzen zu wagen. Es gibt keine Freiheit auf eigene Fakten, wer das reklamiert, ist Despot, Tyrann, der setzt sich selbst absolut. Aber es gibt die Freiheit zum Diskurs und zur Suche nach Lösungen für die Probleme in unserem Land.    .
Eine Kirche, die es wagt, sich nicht vorschnell zu positionieren, sondern genau diesen Diskursraum zu eröffnen, in dem ein jeder, eine jede ihren Schmerz, ihre Hoffnung mitbringen kann und wir es wagen, das Beste im anderen zu sehen – die hat derzeit ganz viele Aufgaben." 

"Da ist nix am Ende..."

"Niemand von uns ist dazu verdammt, an seinem Schreibtisch einsam der Weltenlast zu begegnen.  
Niemand von uns ist dazu verdammt, mit sich selbst allein zu bleiben. Niemand von uns ist dazu verdammt, in seiner Bubble zu bleiben.  
Wir haben Redefreiheit.  
Wir haben Reisefreiheit.  
Wir haben Meinungsfreiheit.
Es gibt keine Freiheit auf eigene Fakten, wer das reklamiert, ist Despot, Tyrann, der setzt sich selbst absolut. Aber es gibt die Freiheit zum Diskurs und zur Suche nach Lösungen für die Probleme in unserem Land.
Jeder und jede von uns kann rausgehen, rein ins andere Milieu. Kann sich hinwenden. Zuwenden. Ohne sich selbst aufzugeben.  
Ohne sich klein zu machen, ohne sich größer zu machen und über einen anderen zu erheben.  
Und solange es in diesem Land diese Freiheit zu reden – die Freiheit zum miteinander reden –  gibt, ist in diesem Land nix am Ende. Driftet auch nichts weg oder auseinander. "

Jazzig und feinsinnig begleitete das Max Westkemper Trio mit Max Westkemper (Flügel), Peter Witte (Bass) und Tim Kröger (Schlagzeug) den Abend und schloss mit einer eigens gesetzten Version von "Nun danket alle Gott" - ein besonderer Wunsch von Regionalbischof Friedrich Selter, der in seinen Dankesworten an Referentin und Musiker auch das Team der Ehrenamtlichen von St. Marien bedachte, die für die angenehme Atmosphäre in der Kirche gesorgt hatten.

Ihren Vortrag stellte uns Dr. Kristin Jahn mit herzlichen Grüßen "ins schöne Osnabrück, das ich mit seinen Menschen in guter Erinnerung behalten werde“ und den Worten „Geben Sie ihn gern weiter und machen ihn zugänglich, es ist die Einladung zum Gespräch, das auch im Rahmen unseres Kirchentages weitergeführt werden kann“ zur Verfügung.
Sehr herzlichen Dank dafür!

(Text: Brigitte Neuhaus, Öffentlichkeitsarbeit im Sprengel Osnabrück, Fotos: Brigitte Neuhaus, Dr. Kerstin Siebenborn-Ramm)