Zum Umgang mit dem Corona-Virus aus Sicht eines Theologen. Beitrag von Dr. Horst Gorski: Gottvertrauen in einer sich rasant verändernden Gesellschaft
11.03.2020. Krankheit und Tod begleiten das Leben des Menschen. Aber Hygiene, gesunde Ernährung und der medizinische Fort- schritt haben sich wie ein Schutzkokon um den Menschen gelegt, der die unmit- telbare Erfahrung der Sterblichkeit über weite Strecken des Lebens von ihm fern- hält. Vielleicht lässt sich das am deut- lichsten an der Entwicklung der Kinder- sterblichkeit ablesen. Im Mittelalter starben mehr als die Hälfte aller Kinder vor Erreichen des 14. Lebensjahres. Und über zwanzig Prozent der Frauen starben im Kindbett. Martin Luther und Katharina von Bora hatten sechs Kinder, von denen eines als Säugling und eines vor dem 14. Lebensjahr starb. Heute liegt die Kindersterblichkeit in Deutschland unter 0,5 %. Am Lebensende haben wir viele Möglichkeiten lebensverlängern- der Maßnahmen und palliativer Versor- gung. So hat unsere Gesellschaft es weit- hin verlernt, mit Erfahrungen von End- lichkeit umzugehen.
Zurzeit aber ist es, als würde der Kokon des Behütetseins, den wir geschaffen und in dem wir uns eingerichtet haben, brüchig. Aber was ist eigentlich die Be- drohlichkeit, die viele Menschen zurzeit empfinden? Und wie lässt sich eine geistliche Haltung beschreiben, die mit dieser Bedrohlichkeit umzugehen ver- steht?
Die Herausforderung besteht darin, die Folgen verbesserter medizinischer Diag- nosen in Verbindung mit globaler Mobi- lität und globaler Kommunikation in Echtzeit zu verarbeiten. Man kann an- nehmen, dass die Existenz des Corona- 19-Virus und der Covid-19-Erkrankung in früheren Zeiten unentdeckt geblieben wäre. Da die Symptome grippeähnlich sind, hätte man die Erkrankungen der Grippe zugerechnet. Und auch die Toten hätte man mit der ohnehin von Jahr zu Jahr schwankenden Zahl der Grippeto- ten mitgezählt.
So sind es nicht eigentlich das Virus und die Krankheit selbst, die uns zu schaffen machen. Was wir verarbeiten müssen, sind die Folgen der Globalisierung und Digitalisierung. Sie ermöglichen es, dass das Virus sich sozusagen mit „Reisege- schwindigkeit“ um die Welt verbreitet und dass wir alle Informationen über Er- krankungen und Maßnahmen in Echt- zeit ins Wohnzimmer geliefert bekom- men. Verstärkt von dem Mechanismus, dass die Medienwelt davon lebt, eine Nachricht auf die andere zu beziehen. In Endlosschleifen werden informative wie belanglose und unwahre Äußerungen gleichermaßen kommentiert und die Kommentare wieder kommentiert. Die Welt, wie sie wirklich ist, ist uns nicht zugänglich. Was wir sehen, ist die Welt, wie die Kommunikationsmedien sie ver- breiten. Zusätzlich entstehen apokalyp- tische Szenarien vor unseren Augen: Was wäre, wenn …? Wenn dieses Virus wirklich hochgradig tödlich wäre? Dage- gen erscheinen die derzeitigen Reaktio- nen wie eine harmlose Übung. Dann müsste die Welt, wie wir sie kennen, tat- sächlich von einem Tag auf den anderen stillstehen.
Neue technische Möglichkeiten und ins- besondere neue technische Verbrei- tungsmedien der Kommunikation stel- len Herausforderungen dar, auf die die Menschen zunächst verunsichert oder hilflos reagieren. Es müssen erst Kultur- formen für den Umgang mit ihnen ent- wickelt werden. Bei diesem Vorgang schauen wir uns gerade selbst zu: Wie wir – learning by doing – Kulturformen des Umgangs mit den Herausforderun- gen der Globalisierung und Digitalisie- rung entwickeln. Wir versuchen Halt zu finden in einer Welt, die sich in ihrer Komplexität unserer Kontrolle entzieht. Früher sagte man: „Das liegt in Gottes Hand“ und nahm hin, was geschah. Und heute?
Tröstet und beruhigt uns der christliche Glaube angesichts dieser Herausforde- rungen? Ja, natürlich. Sich in Gottes Hand geborgen zu wissen, verändert den Blick auf die Sterblichkeit und Zerbrech- lichkeit des Lebens. Neu ist, dass wir mit unserem Gottvertrauen durch eine Welt schreiten, die sich rasant verändert, die wir selbst rasant verändern. Für den Um- gang mit diesen Veränderungen haben wir noch keine angemessenen Kulturfor- men entwickelt. Unsere Verantwortung in dieser Welt suchen wir tastend …
So suchen wir nach dem Geist Gottes, der alles Leben durchwebt, auch in die- sen fremden Erscheinungen, tastend, fragend, ob dies noch Gottes Schöpfung und seinem Atem zuzurechnen ist, oder ob die Gestaltungskraft des Menschen womöglich Schwellen überschreitet, hinter denen nicht mehr Gottes Geist, sondern nur noch menschliches Versa- gen waltet. Die Antwortet auf diese Fra- gen kennt heute niemand. Aber wir ver- trauen darauf, dass es solche Schwellen niemals gibt, weil Gottes Geist die Welt umfasst. Auch eine, die sich selbst gerade nicht versteht.
11. März 2020 , Dr. Horst Gorski, Leiter des Amtsbereichs der VELKD und Vizepräsident im Kirchenamt der EKD